Palästina – ein ganz und gar „westliches“ Thema

Was die zeitgenössische Historiker- und politische Literatur zu Unrecht als „Palästinafrage“ bezeichnet, wobei die bis heute im Nahen Osten virulenten Ereignisse gemeint sind, die die Konfrontationsstellung der palästinensischen Bevölkerung mit dem jüdischen Staatswesen hervorgerbringt, handelt es sich in Wirklichkeit um ein ganzes Konglomerat politischer und geopolitischer Fragestelllungen spezifisch westlichen Zuschnittes. Es ist eine Eigenheit der politischen Publizistik, aber auch der akademischen Literatur im europäischen und anglo-amerikanischen Raum, in der wissenschaftlichen und politischen Debatte über nicht-westliche Gebiete mit irreführenden Begriffen vorzugehen, die zum einen eine Überlegenheit des Westens implizit unterstellen, und darüber hinaus zugleich die wegweisenden Vorzeichen für die Analyse und die Forschung setzen. Ein exemplarischer Fall für solcherart intellektuell unredlichen Vorgehens, das die Auswertung objektiver Sachverhalte und die Realitätserfassung in den Dienst politischer Vorgaben und damit der Machtausübung stellt, stellt die so genannte Nahostfrage dar, in deren Gefolge auch die Palästinafrage – zumindest zum Teil- aufgeworfen wurde.

In dem Zeitraum, der sich sich vom Russisch-Türkischen Krieg 1768-1774 bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts erstreckt, hielt in den Kanzleien Europas, vor allem in die britische, der Begriff einer „orientalischen Frage“ Einzug; damit war die auf das Osmanische Reich gerichtete Politik der verschiedenen Regierungen angesprochen. Tatsächlich aber bricht sich mit dem auf den ersten Blick neutralen Syntagma einer vom Westen als orientalisch vorverurteilten Fragestellung die Vorstellung Bahn, die internen Probleme, die in dem von der Pforte verwalteten geopolitischen Raum im Gefolge seines Abstiegs zu Tage traten, könnten nur mithilfe (und zum Vorteil) der europäischen Großmächte gelöst werden.

In den Debatten über die „Orientalische Frage“ und, vor allem, in den auf ihre „Lösung“ zielenden Handlungen kam ein präzises, strategisches Vorhaben zum Tragen: nämlich das einer Ausdehnung des Einflusses des Alten Kontinents auf Teile des zum Osmanischen Reich gehörenden Territoriums. Die europäischen Mächte, allen voran Großbritannien, zielten in der Tat darauf ab, die osmanische Ökumene von innen her aus den Angeln zu heben. Indem man den Hebel bei den inneren Spannungen ansetzte und nationale Eigenheiten hervorhob und bewusst unterstrich, wie zum Beispiel in Bulgarien, Rumänien und auf dem Balkan (Albanien, Serbien, Montenegro, Griechenland), stieß man gezielt in den „weichen Unterbauch“ des Reichs vor, wobei man sich sogar in die Auseinandersetzungen der Pforte mit einigen ihrer Statthalter und Vizekönige einmischte – wie im Fall Mehmet Alis in Ägypten. So gelang es den europäischen Mächten im Laufe fast eines Jahrhunderts, einen Großteil des zum „nahen Ausland“ gewordenen geopolitischen Gebäudes des Osmanischen Reichs zu unterhöhlen. Die Orientalische Frage wurde dann bekanntlich erst zu Ende des Ersten Weltkriegs gelöst. Mit der Auflösung des Osmanischen Reichs und seiner Aufteilung unter die Siegermächte wurde indessen klar, dass die so genannte „Orientalische“ in erster Linie eine „Frage des britischen Ausgreifens“ auf den Nahen und Mittleren Osten war. Die Wortbildung verwies auf ein altes, britisches Vorhaben: die Auflösung des Osmanischen Reichs.

Auch die Palästinafrage ist eine ganz und gar westliche Fragestellung. Sie beinhaltet und verbirgt zumindest fünf untergeordnete Fragen, die wir – zur methodischen Vereinfachung – in zwei Kategorien erfassen:

In der historischen, die sich im Zeitraum von 1881 bis 1948 darstellt, um dann in die zeitgenössische Spanne, die mit der Selbsternennung des zionistischen Staatswesens am 13. Mai 1948 ihren Anfang nimmt und bis heute andauert, überzugehen.

Die beiden historischen Fragestellungen betreffen:

  • die „jüdische Frage“, beziehungsweise die nach dem „vorstaatlichen Zionismus“ (1), die sich auf die Anfänge der Einwanderung und der Gründung der ersten Niederlassungen jüdischer Siedler aus Europa in Palästina (1881-1903) bezieht,
  • die „britische Frage“, die die wirtschaftliche, politische und militärische Durchdringung des Nahen Ostens durch Großbritannien (1922-1948) betrifft.

Demgegenüber zielt die zweite Kategorie von Fragestelllungen auf die Erkenntnis:

  • Der „zionistischen Frage“, die sich – in einem zugleich säkularen und religiösen Mythos aus den Zeiten des „Gelobten Landes“ gründend – auf drei Schienen gegen die Realität durchzusetzen sucht:a) mithilfe der ins Werk gesetzten Bevölkerungspolitik (2), u.A. in wiederholten Einwanderungswellen (1904-2009),b) mit dem Aufbau des staatlichen Apparats und des militärisch-industriellen Potentials Israels (3),

    c) mit dem Auf- und Ausbau der Beziehungen zwischen den Spitzen des jüdischen Staats und den internationalen pro-israelischen Organisationen in Europa und, ganz besonders, in den Vereinigten Staaten (4).

  • Einer „israelischen Frage“, die sich erstreckt auf:a) den Aufbau der israelischen „nationalen“ Identität und der auf das Gerüst des Holocaust gestellten „nationalen Zivilreligion“ (5),b) die Konsolidierung des kulturellen und staatlichen Apparats sowie des militärisch-industriellen Potentials Israels,

    c) die „ethnische Säuberung“ zu Lasten der palästinensischen Bevölkerung (6),

    d) den Expansionsdrang des jüdischen Staats mit dem Ziel, die Vision eines ihrer Gründerväter, Ben Gurion, von einem „Großisrael vom Nil bis zum Euphrat“ zu verwirklichen.

  • Eine „Amerikanische Frage“, bezogen auf die wirtschaftliche, politische und militärische Durchdringung des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens durch die Vereinigten Staaten, gestützt auf das „besondere Verhältnis“ zu Tel Aviv (7).

Unter geopolitischen Gesichtspunkten verbirgt sich hinter dem Ausdruck einer „palästinensischen Frage“ ebenfalls, wie hinter dem einer „orientalischen“, ein wohldefiniertes Vorhaben: das der Entfernung und Vertreibung der Palästinenser von bzw. aus ihrem Land, als Voraussetzung für die Existenz und die Expansion des jüdischen Staats.

Palästina – eine Provinz des Osmanischen Reichs

Über einen langen historischen Zeitraum hinweg, der im Grunde die gesamte moderne und einen Teil der zeitgeschichtlichen Ära umfasst, trat Palästina nicht aufgrund seines etwaigen geopolitischen Eigengewichts in die Geschichte ein. In der Tat, über den beachtlichen Zeitraum von etwa vierhundert Jahren – beginnend mit seiner Einordnung in das Osmanische Reich nachdem es den Mameluken im Jahr 1517 abgetrotzt wurde, bis zur Erklärung von Balfour im Jahr 1917 blieb Palästina eine Provinz, die, dank der von Istanbul allen Gemeinschaften des Osmanischen Reichs garantieren Stabilität, eine nennenswerte wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Blüte erlebte.

Über diesen beachtlichen Zeitraum hinweg fielen die einzigen, erwähnenswerten Spannungen in Palästina, die knapp zehn Jahre seiner Geschichte betrafen, in die Jahre von 1831 bis 1840, als es kurzzeitig unter ägyptische Dominanz geriet im Gefolge einer zwischen Sultan Mahumed II und Pascha Mehmet Ali von Ägypten ausgebrochenen Kontroverse. Diese Kontroverse, bei der des um syrische Territorien (bestehend aus Palästina, Transjordanien, Libanon und Syrien) ging, die der zukünftige ägyptische Herrscher als Belohnung für die der Pforte im Krieg gegen Griechenland (1821) geleisteten Dienste beanspruchte, wurde nach dem Tod des Sultans 1840 beigelegt, und zwar in der Londoner Konvention, die durch Vermittlung Preußens, Österreichs, Russlands und Großbritanniens zustande kam.

Jüdische Einwanderung

Wenn es auch im Hinblick auf eine korrekte geopolitische Analyse des zeitgenössischen Palästina angemessen wäre, bei den Sykes-Picot Abmachungen (16. Mai 1916) bis zur Erklärung von Balfour und dem Vertrag von Sèvres (10. August 1920) anzusetzen, sollte doch die grundlegende Rolle bedacht werden, die die jüdischen Einwanderungswellen und die Gründung jüdischer Kolonien zu Ende des 19. Jahrhunderts bei der Entstehung der Spannungen vor Ort spielten und, zumindest teilweise, auch heute noch für die Expansionspolitik des zionistischen Staatswesen spielen.

Im Jahr 1880 war der jüdische Bevölkerungsanteil Palästinas mit etwa 24 000 Seelen noch relativ gering. Aber genau in diesem Jahr setzte ein beachtlicher Zustrom von Juden, vorwiegend aus mittel- und osteuropäischen Ländern (Deutschland und Russland) ein. Die sich verstärkende Einwanderung nach Palästina, der Ankauf von Ländereien und Gebäuden durch europäische Juden in einem bestimmten Teil des Osmanischen Reichs beunruhigten die Hohe Pforte dermaßen, dass sie sich veranlasst sah, im Jahre 1881 per Dekret das Anwachsen jüdischer Kolonien in Palästina zu begrenzen. Die erlassenen restriktiven Normen erlaubten eine Neuansiedlung jüdischer Immigranten überall im Osmanischen Reich, mit Ausnahme Palästinas, um einer drohenden Umwandlung der vorhanden Bevölkerungsstruktur vor Ort vorzubeugen und, vor allem, um keinen potentiellen Spannungsherd inmitten einer Osmanischen Provinz von so großer symbolischer und religiöser Bedeutung für die drei monotheistischen Religionen aufkommen zu lassen. Die Unterstützung, die einige europäische Staaten der jüdischen Auswanderung nach Palästina zukommen ließen und die wachsende Bedeutung, die der Zionismus als organisierte, internationale Bewegung erlangte, ließen die auf Eindämmung der jüdischen Einwanderung und Begrenzung der jüdischen Siedlungsgründungen bedachte Politik der in ihren Kontrollmöglichkeiten und ihrem Durchsetzungsvermögen wenig effiziente Verwaltung der Hohen Pforte an ihre Grenzen stoßen. In weniger als dreißig Jahren, zwischen 1880 und 1908, wuchs die jüdische Bevölkerung von 24.000 auf ungefähr 80.000 Seelen an, beziehungsweise, wie der Historiker Robert Mantram (8) darstellt, von 5% auf 10% der gesamten, in Palästina vorhandenen Bevölkerung.

Unter dem Britischen Mandat (1922-1948) setzte sich die jüdische Einwanderung nach Palästina in erstaunlichem Rhythmus fort, um sich von 1948 bis zum heutigen Datum noch zu intensivieren. Derzeit wird die jüdische Bevölkerung in Palästina auf 5.500.000 bis 6.000.000 geschätzt.

Das von der Hohen Pforte befürchtete Kippen der Bevölkerungsstruktur ist Wirklichkeit geworden – mit katastrophalen Folgen für die Einheimischen: die autochthonen Palästinenser werden Zug um Zug ihres Landbesitzes beraubt und zum großen Teil aus dem Territorium des neu entstandenen jüdischen Staatswesens vertrieben.

Laut Quellen der UNO (General Progress Report and Supplementary Report of the United Nations Conciliation Commission for Palestine) beläuft sich die Anzahl der vertriebenen Palästinenser im Jahr 1951 auf 711.000 Seelen; heute liegt die Zahl der Palästinenser mit anerkanntem Flüchtlingsstatus (9) bei etwa 4.600.000.

Palästina im bi-polaren System

In den letzten Jahren des Britischen Mandats, im Zuge der durch den Ausgang des Zweiten Weltkriegs sich neu formierenden geopolitischen Gewichtslage, wurde Palästina sowohl für die Vereinigten Staaten wie für die Sowjetunion zu einem strategischen Ziel. Aus unterschiedlichen Motiven bei konvergierender Interessenlage unterstützen Washington und Moskau (10) die Gründung, Konsolidierung und Expansion des neuen, zionistischen Staats. Die neuen Großmächte der Welt beabsichtigen in der Tat, ihren jeweils eigenen Einfluss im Nahen Osten mithilfe des „Hebels“ Israel zur Geltung zu bringen.

In den ersten Zeiten, etwa ab Dezember 1947 bis September-Oktober des Folgejahres dachte Stalin, ein virtuell „sozialistischer“ und vor allem anti-britischer Staat, in den Mittelmeerraum eingepflanzt, passe gut in die Zielperspektive einer weltweiten Revolution im allgemeinen und daher in die besondere Interessenlage der Sowjetunion. Von da ab jedoch änderte der Kremlin wiederholt seine Meinung. Dass die Sowjetunion ihre Haltung gegenüber dem neu entstandenen Staat der Juden schon bald zu ändern begann, wurde in der Tat bereits in den letzten Monaten des Jahres 1948 sichtbar, bei der Ankunft des ersten israelischen Botschafters, Golda Meir, in Moskau Die diplomatischen Bemühungen, denen sich Meir und ihre Nachfolger, Mordechai Namir (Nemirovskji) und Shmuel Eliashiv hingaben, hatten das dichte Geflecht von Interessen, das die Spitzen des jüdischen Staatswesens mit einigen wichtigen, philo-zionistischen sowjetischen Exponenten, meist selbst jüdischer Herkunft, mit amerikanischen Zionisten, den Meistern der „besonderen Beziehung“ zwischen Washington und Tel Aviv, zutage gefördert. Die Beziehungen zwischen Moskau und Tel Aviv verschlechterten sich in der Folge jedoch weiterhin, bis es dann im Februar 1953 zum endgültigen Bruch kam (11). Demnach stellte sich für Stalin die Einrichtung des jüdischen Staats in Palästina zu Lasten der Araber schließlich als das dar, was sie war: ein Schachzug innerhalb der Containment-Strategie, ein Pflock, mithilfe dessen der Einfluss der USA im Mittelmeerraum und im Nahen Osten fest installiert werden sollte.

Auch für die USA gilt Palästina aufgrund seiner geographischen Lage als wichtiger, strategischer Stützpunkt, von dem aus, zusammen mit den 1952 zu NATO-Partnern gewordenen Griechenland und Türkei der Osten des Mittelmeerraums und der Nahe Osten in Schach gehalten werden kann. Abgesehen von der systematischen Einflussnahme der Israel-Lobby in den USA auf das State Department und den Senat war dies das Hauptmotiv für die Unterstützung, die Washington Israel angedeihen ließ, das es für seinen treuesten Verbündeten in der Region hält. Darüber hinaus hat die Unterstützung des jüdischen Staats durch die USA, angesichts der Unruhen, die dessen Einrichtung in den arabischen Massen hervorrief, auch den zynischen Nebeneffekt, einige arabische Staaten – vor allem Ägypten, Syrien und Jordanien – nicht ohne erpresserische Absicht in einem Zustand ständiger Spannungen zu halten; ein Zustand ständiger Spannungen, der, wie wir weiter unten darstellen werden, macchiavellisch ausgebeutet wurde – unter der Zielvorgabe einer Ausdehnung der israelischen Landnahme im Juni 1967, als die diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Israelis zum Stillstand kamen und den Waffen das Feld überließen.

Obgleich Israel bereits seit 1950, seit dem Beginn des Koreakriegs offiziell als Verbündeter Washingtons galt, etabliert es sich mit der Suez-Krise i.J. 1956 und der Teilname am Krieg gegen Nasser, unbekümmert um die zwischen Tel Aviv, London und Paris getroffenen Abmachungen, als der unersetzliche Partner der USA im Nahen Osten. Von diesem Zeitpunkt an erhalten die geopolitischen Fragen um Palästina ein immer größeres Gewicht für die amerikanische Außenpolitik und die Formulierung der geopolitischen Doktrinen, denen sie folgt. Die USA unterstützen die Politik der Landnahme und der Kolonisierung durch den jüdischen Staat und in der Folge, auch dessen auf Vertreibung der nicht-jüdischen Einwohner gerichtete Politik, die die israelischen Machthaber seit 1948 mit Beständigkeit und Entschlossenheit ins Werk setzen. Zu Ende der 50-er Jahre ist „Israel … heimlich in eine pro-amerikanische geopolitische Allianz, die die Türkei, Iran und Äthiopien einschließt, integriert.“ (12) Zu einem eindeutigen Bekenntnis der USA zu Tel Aviv kam es dann i.J. 1967, während der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israelis und Arabern im Sechstagekrieg.

Für den Politologen Jean-François Legrain „ist der arabisch-israelische, so genannte Sechstagekrieg (Juni 1967) „im Zusammenhang mit dem Projekt der Expansion und Vertreibung zu sehen. Wiederum“, bemerkt der Autor, „hat die klassische Geschichtsschreibung den grundsätzlich defensiven Charakter dieses Kriegs unterstrichen ….. Verschiedene Zeugnisse, die dreißig Jahre später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, u.A. die Aussagen des israelischen ‘Helden’ General Moshe Dayan (1915-1981) haben diese Interpretation der Dinge zunichte gemacht und zeichnen stattdessen das Bild einer israelischen Politik, die mit bewusster Provokation darauf abzielte, die arabischen Staaten in einen Krieg zu locken, der von vornherein als verloren galt und Israel eine weitere Landnahme ermöglichen würde“ (13)

Noch 1967“, hebt Aymeric Chauprade unter Bezugnahme auf die Beziehungen zwischen den USA und Israel hervor, „können die Amerikaner Israel zu Recht als eine erstklassige Trumpfkarte im Kalten Krieg betrachten. Der kleine jüdische Staat hat sich zu einer echten Regionalmacht ausgewachsen, die darüber hinaus ihre Fähigkeit, gleich zwei Bündnispartnern Moskaus ( Ägypten und Syrien) zu schlagen, den Suezkanal zu blockieren und die Nachschubwege für Hanoi aus Moskau abzuschneiden, unter Beweis gestellt hat.“ (14)

Die enge Beziehung, die Washington mit Tel Aviv verbindet, festigte sich fortlaufend während der gesamten Dauer des Kalten Krieges. Während dieses Zeitraums durchläuft der Widerstand der Palästinenser, vertreten hauptsächlich durch die Palästinensische Befreiungsorganisation OLP wechselnde Phasen, ohne zu einer endgültigen Lösung zu kommen. Der so genannte „Friedensprozess“, von den USA gesponsort, entpuppte sich als eine Farce für die Palästinenser, deren Bedingungen sich zusehends verschlechterten.

Palästina im uni-polaren Entwurf

Mit dem Abbau der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA zur einzig verbliebenen, konkurrenzlosen Großmacht geworden und konnten daran gehen, eine neue Weltordnung zu diktieren, wobei als erstes die Neuordnung des Nahen Ostens auf dem Plan stand. Hauptetappen auf dem Weg zur amerikanischen Neuordnung waren: der Golfkrieg (1990-1991), die Besetzung Afghanistans (2002) und der Angriff auf Irak (2003). In der Folge, i.J. 2004 fügen die Neocon-Strategen Washingtons den Nahen und Mittleren Osten in den noch wesentlich ehrgeizigeren Entwurf eines Großen Mittleren Ostens ein. Dieser Entwurf, in dem einige der Leitlinien des Vertrags von Helsinki aus dem Jahr 1975 wieder zur Geltung kommen, sieht die „Balkanisierung“ eines großen Gebiets vor – von Marokko bis in die zentralasiatischen Republiken hinein – was auf eine Neuordnung nach ethnisch-konfessionellen Sollbruchstellen hinausläuft Mit einem derartigen geopolitischen Vorhaben beabsichtigt Washington, das neue Russland Putins in Schach zu halten, sich die zentralasiatischen Energieressourcen zu sichern und einen Großteil der eurasiatischen Bevölkerung – gemäß der Doktrin vom Aufeinanderprallen der Kulturen – in einem ständigen Zustand der Spannung und Erpressung zu halten. In einem so umrissenen Rahmen wurde für Palästina die so genannte „Zweistaatenlösung“ formuliert, im Sinne eines israelischen Staats, dem nahezu das gesamte Territorium Palästinas zufallen würde, neben einem palästinensischen, der, mit begrenzter Souveränität ausgestattet und seiner Wasserressourcen beraubt, unter die Aufsicht der Palästinensischen Autonomiebehörde fallen sollte.

Eine derartige Lösung, sollte sie je Wirklichkeit werden, würde dem Projekt der „Balkanisierung“, das seit 1948 auf dem Programm steht, den offiziellen Stempel der Legitimität aufdrücken, mit der Folge, dass sich im Laufe der Zeit die Spannungen zwischen der palästinensischen Bevölkerung und der jüdischen Kolonialmacht weiter zuspitzen müssten

In Wirklichkeit aber scheint sich das strategische Konzept Tel Avivs eher auf eine totale Vertreibung der nicht-jüdischen, im Westjordanland und im Gazastreifen beheimateten Bevölkerung auszurichten. Die vertriebenen Palästinenser sollten, nach diesen Plänen, einer jordanisch-palästinensischen Konföderation beitreten. (15)

Die multi-polare Ära: Palästina – eine Provinz Eurasiens

In einem neuen, multi-polaren System werden sich – sofern man die Wahrscheinlichkeit eines von Israel und den USA gegen Iran gerichteten Militärschlags ausschließt – die Vorhaben Israels einer Vertreibung und Ausdehnung der Souveränität Tel Avivs auf das gesamte Westjordanland und den Gazastreifen nur schwerlich verwirklichen lassen; es müssten schließlich außer den Hauptakteuren der Region, nämlich die Türkei, Jordanien, Syrien, Ägypten und der Iran, auch die internationalen Mächte, Russland und China in Betracht gezogen werden. Moskau und Peking haben von einer Eindämmung des israelischen Expansionsdrangs nur zu gewinnen und können seine Verwurzelung im Nahen Osten nicht begrüssen. Ein militärisch und wirtschaftlich starkes Israel würde auf mittlere Sicht den beiden eurasiatischen Mächten zur echten strategischen Bedrohung werden, angesichts der engen Bande zwischen Tel Aviv und Washington und des Einflusses, den die Israel-Lobby auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten ausübt. In der Tat zielt Israel darauf ab, nicht nur Knotenpunkt für die Etablierung des Projekts eines Neuen Großen Mittleren Ostens zur Absicherung der nordamerikanischen Hegemonialstellung in dem gesamten Raum zu werden, sondern möchte sich darüber hinaus als einzige Regionalmacht behaupten. Mit diesem seinem großen Ziel vor Augen stellt sich der jüdische Staat den Beziehungen in den Weg, die die russische Föderation und die Chinesische Volksrepublik mit Geduld und der Perspektive auf eine eurasiatische Integration mit anderen regionalen Akteuren, insbesondere mit der Türkei Erdogans, dem Iran Ahmadi Nejads und dem Syrien Bashar al-Assads aufbauen und pflegen. Mit der Konsolidierung und Weiterentwicklung solcher Beziehungen – unter besonderer Beachtung des Ausbaus der Verteidigungsfähigkeit und der regionalen Sicherungssysteme – könnte ein realistischer und viel versprechender Anfang gemacht worden sein, um auch eine Lösung für die mit der Etablierung des jüdischen Staats aufgeworfenen Probleme zu finden, das heißt, für die Rückkehr Palästinas – als Provinz Eurasiens im Zuge der Herausbildung einer neuen, einheitlichen, geopolitischen Wirklichkeit.

(1) Eli Barnavi, Storia d’Israele, Bompiani, Mailand, 2005, S.138
(2) Fréderic Encel, François Thual, Géopolitique d’Israël, Edition du Seuil, Paris, 2006, S.23-25
(3) Diana Carminati, Alfredo Tradardi (Herausgeber), Boicottare Israele, Derive Approdi, Rom, 2005
(4) John J. Mearsheimer, Stephen M. Walt, The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy, erschienen bei Farrar, Strauss, and Giroux, 2007, italienische Ausgabe: La Israel Lobby e la politica estera americana, Mondadori, Mailand 2007.
(5) Nach Bruno Guigue spielte die “Wiederauferstehung des Holocaust” ab der Mitte der siebziger Jahre, mit dem Ziel ihrer Verankerung in die Bildungssysteme, eine außerordentlich wichtige Rolle für die weitere Stärkung der ohnehin engen Bande zwischen Washington und Tel Aviv und der Verbreitung eines Israel-freundlichen Klimas. Siehe Aux origines du conflit israélo-arabe. L’invisible remords de l’Occident, L’Harmattan, Paris 2008, S. 135-139. Nach Norman Finkelstein, dem umstrittenen Autor von The Holocaust Industry: Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, Erstausgabe 2000, italienische Ausgabe L’industria dell’Olocausto. Lo sfruttamento della sofferenza degli ebrei, Rizzoli, Mailand, 2004, wurde das Thema Holocaust gleich nach dem Sechstagekrieg 1967 zum Druckmittel umfunktioniert und in den Dienst der israelischen Propaganda und pro-israelischen Einflussnahme gestellt.
(6) Ilan Pappe, The Ethnic Cleansing of Palestine, Oneworld Publications, London 2007, italienische Ausgabe: La pulizia etnica dei palestinesi, Fazi Editore, Rom 2008
(7) Nach Ansicht des französischen Orientalisten jüdischer Abstammung, Maxime Rodinson (1915-2004) sind die jüdisch-zionistische Kolonisierung und die Errichtung des Staatswesens Israel i.J. 1948 das Ergebnis “eines Prozesses, der nahtlos in die große, weit ausgreifende euro-amerikanische Expansionspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts zur Besiedlung und politischen und wirtschaftlichen Beherrschung anderer Völker einzuordnen ist” (zitiert nach Serge Cordellier, Herausgeber, Le dictionnaire historique e géographique du 20° siècle, La Découverte, Paris 2007, S. 574. Zur Vertiefung der Gedanken M. Rodinsons über die israelische Frage siehe sein Israele ed il rifiuto arabo, Einaudi, Mailand, 1969.
(8) Robert Mantran, Storia dell’impero ottomano, Argo, Lecce 2000, S. 588
(9) Angaben nach Archiv der United Nations Relief and Work Agency, UNRWA http://www.un.org/unrwa
(10) Die USA ließen Israel ihre de-facto Anerkennung bereits knapp “zehn Minuten nach Ausrufen des Staats zuteil werden, als in Washington gerade Mitternacht vorbei war” (zitiert nach Leonid Mlecin, Perché Stalin creò Israele, Sandro Teti editore, Rom 2008, S. 128), während die offizielle Anerkennung dann im Januar 1949 folgte. Moskau erkannte den zionistischen Staat am 18. Mai, vier Tage nach Ausrufen des neuen Staatswesens an.
(11) Zu den Beziehungen zwischen Stalin, der zionistischen Bewegung und Israel siehe Leonid Mlecin, op. cit.
(12) Aymeric Chauprade, Chronique du choc des civilisations, Editions Chronique-Dargaud, s.a., Pèrigueux 2009, S. 143
(13) J.-F.L. (Jean François Legrain), Question palestinienne, in Serge Cordellier (Herausgeber), op.cit., S. 575
(14) Aymeric Chauprade, op.cit. S. 143
(15) Benny Morris, One Land, Two Peoples, Cambridge Univ. Press, 2004, italienische Ausgabe Due popoli, una terra, Rizzoli, Mailand 2009, S 190-197.


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